Ute Goerke

Journalistin / Dipl. Geologin

 

Erschienen als Reportage mit zwei Fotos in der Wochenzeitung der Ev. Landeskirche von Westfalen,
„Unsere Kirche“ 52 / 24.12.2000.

 

Weihnachtsfeier von Wohnungslosen in Dortmund

„Da kann man ein bisschen quatschen“

Dortmunder Wohnungslose finden sich jedes Jahr im Reinoldinum auf Einladung der Diakonie zum Weihnachtsessen ein.

DORTMUND – Eine Große Tüte mit Lebensmitteln: Käsescheibletten, Fleischwurst, Brötchen, Spekulatius und Schokolade. Das ist das Weihnachtsgeschenk für Heinz-Peter*, Oli und Hans und andere Wohnungslose, die heute im Reinoldinum in Dortmund zusammenkommen.
Seit über 30 Jahren schon lädt das Diakonische Werk zum Weihnachtsessen ein. Von den etwa über 600 Wohnungslosen in Dortmund haben nicht alle Angehörige oder Freunde, mit denen sie Weihnachten verbringen können. Auch dieses Jahr sind über 150 Menschen gekommen, um für drei Stunden Weihnachten zu feiern.
Die Dämmerung ist schon angebrochen. Es ist heute nicht kalt, aber nass – wie so oft in dieser Jahreszeit. Um zwanzig vor fünf öffnen sich die Türen des Reinoldinums. Die Hereinkommenden lassen sich begrüßen: „Hier können Sie Ihre Jacken ablegen – wer will.“ Ein freundlicher Ton. Die Wohnungslosen sind heute willkommene Gäste.
Viele kommen bedächtig, häufig keuchend und hustend, die Treppen hoch. Einige setzen sich erst einmal an die kleinen Tische vor den Saal, um sich auszuruhen oder eine Zigarette zu rauchen. Einzelne begrüßen sich freudig mit einer großzügigen Umarmung: „Auch wieder dabei?“
Im großen Saal sind die Kaffeetafeln gedeckt. Renate Vehowsky ist das erste Mal dabei und eine der über 20 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Sie geht herum und bietet Kaffee an. „Die Obdachlosen sollen heute bedient werden“, erklärt sie später in der Küche. Sie empört sich aber auch: „Nur zur Weihnachtszeit spenden die Leute, sonst wird den Ärmsten nichts geboten.“
Andere Ehrenamtliche verteilen von Geschäftsleuten und Firmen gespendete Brötchen, Frischwaren und Kekse. Es sind dieses Jahr alles Nichtrauchertüten. Niemand hat Rauchwaren gespendet. „Die Tüte ist ganz wichtig“, weiß die Sozialarbeiterin Beatrice Reubelt, „Lebensmittel zum Überleben und das Gefühl, etwas geschenkt zu bekommen.“
Das Stimmengewirr von über 150 Menschen übertönt das Geschirrgeklapper. Ein Weihnachtsbaum mit Glaskugeln und Kerzen erinnert an den Anlass: Es ist Heiligabend. Der Diakoniepfarrer Wilhelm Portmann begrüßt die Gäste. Der Posaunenchor stimmt anschließend „Oh, Tannenbaum“ an. Die meisten Anwesenden singen verhalten mit. Portmann erzählt in groben Zügen die Weihnachtsgeschichte und kämpft mit seiner Stimme gegen eine allgemeine Unruhe an. Jemand schriet „Ruhe“ durch den Saal, andere murmeln vor sich hin. Portmann ist bei der Geburt angelangt: „Maria gebar ihren Sohn – Und wir singen das zweite Lied: Alle Jahre wieder“ Einige schweigen: Es ist ihnen peinlich, sie sinken ein und sind mit ihren Gedanken offensichtlich irgendwo anders.
Pfarrer Portmann rast förmlich durch die Weihnachtsgeschichte. Er erzählt von den Hirten und den drei Königen, die von weit her kamen, um das Kind zu sehen. Der Posaunenchor spielt „Oh, du Fröhliche“. Viele kennen das Lied. Anschließend räumen die Helferinnen und Helfer das Kaffeegeschirr ab. Nach einer musikalischen Einlage vom Dortmunder Pianisten Harals Köster wird das warme Abendessen serviert.
Einige der Leute stehen etwas verloren herum, andere gehen an allen Tischgruppen entlang. Sie suchen Bekannte, die dieses Mal wohl nicht gekommen sind.
Heinz-Peter ist einer, der gekommen ist. Er kennt etwa ’15 Mann“ im Saal. Bis vor einer Woche schlief er auf dem beheizten WC des Hauptfriedhofs. Dort sprach ihn eine Frau an und bot ihm gegen eine minimale Miete ein Zimmer an: „So ein Glück hat man kein zweites Mal. Eine Frau, die einen Penner von der Straße holte. Es gibt noch hilfsbereite Menschen.“ Er freut sich auch über den Abend. „Ganz klasse, dass das hier gemacht wird. Es sind zwar nur drei Stunden, aber da kann man ein bisschen quatschen.“
Anders sieht es bei dem 61-jährigen Hans aus. In wenigen Tagen wird er seine Wohnung verlieren. Er muss raus, weil er die Miete nicht alleine zahlen kann. Sein Kollege starb im August an Krebs. Er kommt ins Erzählen: dass er aus Oberhausen kommt, dass er sich wünscht, gesund zu bleiben und dass er liiert war. „Das ist in die Brüche gegangen. Aber mit 40 oder 50 Jahren kommt man an anständige Frauen schwer ran.“ Heiraten will er nicht: „Es ergibt sich immer mal was, aber nichts von Dauer.“

Jeder erhält zum Abschied eine Lebensmitteltüte

An einem der größeren Tische sitzen sieben jüngere Leute. Oli und ein Kumpel wollen handeln: „Für 500 Mark erzähle ich dir meine Lebensgeschichte. Das Geld brauche ich, um meine Wohnung einzurichten.“ – „Ich klaue, nehme Heroin, Methadon, immer abwechselnd“, gibt er an.
Später erzählt der fast 25-jährige Oli schüchtern, dass er sich für seine schlechten Zähne und die Zahnlücken schämt, dass er weder Abschluss noch einen Job hat, dafür aber eine verkapselte Hepatitis C.
Hartmut sieht nicht aus wie einer von ihnen. Bewusst grenzt er sich durch seinen Anzug ab. „Sonst renne ich auch in Jeans rum Ich habe mich aber heute besser angezogen und bin frisch gewaschen.“ Dafür war er heute Nachmittag wie viele andere auch in der Jägerstraße, in der Zentralen Anlauf- und Beratungsstelle für Wohnungslose. Er redet hoffnungsvoll von seiner neuen Wohnung, die er bald beziehen will. Noch schläft er in der Männerübernachtungsstelle in der Unionstraße: „Das ist das Letzte, wo jemand hingeht. Drogenabhängige, Knastis, Alkoholiker.“ Seine Frau sei letztes Jahr gestorben, mit 43 Jahren an Krebs. Da sei es nur noch bergab gegangen.
Portmann weiß: „Dieses Jahr sind viel mehr Jüngere gekommen. Das Schlimme ist, dass gerade sie nicht nur keine Perspektive, sondern auch keine Erinnerung haben, um sich wieder hochzuziehen.“
Bevor die heutigen Gäste in die Nacht gehen, erhalten sie alle noch ihre Lebensmitteltüte. Das Präsent muss bis zum 27. Dezember reichen – bis die Geschäfte wieder öffnen, bis sie neues Geld vom Sozialamt holen können, bis ...
Draußen ist es ungemütlich und immer noch regnerisch. Wer nicht raus muss, bleibt in der warmen Wohnung. Am Heiligen Abend sowieso. Oli, Hans und Heiz-Peter und all die anderen ziehen mit ihren Freunden in kleinen Gruppen durch die leeren Straßen von Dortmund, bevor sie in ihre Übernachtungsstelle gehen.


*) Sämtliche Namen der im Text genannten Wohnungslosen wurden geändert.